Multiple Sklerose im Job
2010 beendete ich meine Ausbildung zur Krankenschwester und entschied mich auf der Neurologie-Station zu arbeiten. Damals war ich gerade 20 Jahre alt – noch fünf Jahre von meiner MS-Diagnose entfernt. Bis 2017 habe ich dort letztendlich gearbeitet, also zwei Jahre lang mit der MS. Die Neurologie ist ein sehr arbeitsintensiver Bereich, keine Frage. Die Patienten sind in der Regel alt und körperlich stark eingeschränkt. Die meisten sind wegen eines Schlaganfalls dort. Ich entschied mich direkt für die Abteilung „Stroke Unit“ - eine Überwachungsstation für Schlaganfälle. Dadurch hatte ich während meiner Arbeit eigentlich nie etwas mit MS-Patienten zu tun. Mein Team und ich haben 14 Monitorbetten betreut. Dazu muss man sagen: Nicht nur die Arbeit an sich ist körperlich sehr anstrengend, sondern auch die Geräuschkulisse und die psychische Belastung können einem zu schaffen machen. Heute wissen wir, dass Stress auch durch Lautstärke ausgelöst werden kann. Eine schlechte Besetzung und ein hoher Arbeitsaufwand tun ihr Übriges, um einen stressigen und harten Arbeitsalltag komplett zu machen. Dennoch möchte ich betonen: Trotz der anstrengenden Arbeit bin ich all die Jahre sehr gerne zur Arbeit gegangen – wir waren ein tolles Team! Ich war schon immer sehr ehrgeizig, besuchte viele Fort- und Weiterbildungen. Beispielsweise machte ich eine Fortbildung zum Praxisanleiter (Begleitung von Auszubildenden, Einarbeitung neuer Kollegen und Abnahme von Prüfungen), einen Lehrgang über spezielle Pflege auf einer „Stroke Unit“ an der Universitätsklinik Mainz und besuchte noch viele weitere Kurse.
Im Februar 2015 hatte ich einen Nachtdienst-Block von fünf Nächten. Ich muss sagen, eigentlich habe ich gerne nachts gearbeitet. Es war meist etwas ruhiger als am Tage. Ich erinnere mich, dass ich in der letzten Nacht des Blocks schon das Gefühl bekommen habe, auf dem rechten Auge schlechter zu sehen. Jedoch war mir bewusst, dass die Müdigkeit, Dunkelheit und das ständige Anstarren der Monitore zu „schlechtem Sehen“ führen können. So schlussfolgerte ich an eine normale Sehschwäche aufgrund meiner fünf Nachtdienste und machte mir keine weiteren Gedanken. Es war Samstagmorgen als ich erschöpft die Klinik verließ. Zuhause ging ich dementsprechend zügig ins Bett, um meinen versäumten Schlaf nachzuholen. Als ich mittags wach wurde und feststellte, dass das Wetter gut war, beschlossen mein Mann und ich eine Fahrradtour zu machen. Ich erinnere mich, dass ich noch während der Tour das erste Mal erwähnte, dass ich komisch sehe. Denn langsam beschlich mich das Gefühl, dass diese Sehschwäche nicht mehr mit meiner langen Nacht zusammenhängen könnte. Ich hatte mich schließlich ausgeschlafen. Es war so, als ob ich geblendet werden würde. Dennoch schob ich die Grübeleien beiseite und redete mir ein, dass es immer noch auf die Müdigkeit zurückzuführen sei, die vielleicht noch ihre Nachwirkungen zeigte. Abends waren wir auf einem Geburtstag eingeladen und während des Essens, bekam ich es plötzlich doch mit der Angst zu tun. Ich war mir sicher: Irgendetwas stimmte hier nicht. Es wurde immer schlimmer. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt. Ich weiß noch, dass ich zu meinem Mann sagte: „Du, ich sehe rechts jetzt überhaupt nichts mehr“. Das alarmierte nun auch ihn. Wir fuhren dann auf direktem Wege in die Augenklinik. Es stellte sich schnell heraus „Neuritis optici“ eine Entzündung des Sehnervs. Ein paar Tage darauf erhielt ich nach einigen Tests die Diagnose Multiple Sklerose. Es traf mich wie ein Schlag. Sofort änderte ich die Prioritäten und wollte mich jeglichem Stress entziehen. Ich stellte mir schnell die Fragen: Sollte ich meinen Job kündigen? Und: Falle ich nun anderen zur Last? Musste man sich nun um mich kümmern, statt ich mich um andere? Ich war verzweifelt.
Wisst ihr, wenn ihr mit Menschen Jahre lang zusammenarbeitet, zu jeder Uhrzeit, und einige Ausnahmesituationen gemeinsam meistert, sind das nicht „nur“ Kollegen. Nein, aus Kollegen wird deine zweite Familie. In dem Bereich der „Stroke Unit“ sind Notfälle an der Tagesordnung. Während eines Notfalls musst du deinen Kollegen blind vertrauen und Hand in Hand arbeiten können. Dieses Vertrauen ist harte und lange Arbeit, wie ihr euch sicher vorstellen könnt. Der Tod und schlimme Schicksale begleiteten uns täglich. Schlaganfälle oder Hirnblutungen, auch von jungen Menschen, das hinterlässt Spuren und diese einschneidenden Erlebnisse schweißen noch mehr zusammen. Das Schichtdienst-Modell erschwert es, Freundschaften außerhalb der Arbeit zu pflegen, mit Menschen, die einen „normalen Job“ mit gängigen Arbeitszeiten haben. Viele haben nur wenig und irgendwann auch gar kein Verständnis mehr dafür, wenn du jedes zweite Wochenende arbeiten musst und den dritten Geburtstag in Folge absagst. Einige meiner Kollegen waren und sind immer noch meine Freunde. Ja, sogar meine besten Freunde. Wir haben Verständnis für den Alltag des anderen und sind füreinander da. Verheimlicht man eine Krankheit und die damit einhergehenden Sorgen und Ängste vor den besten Freunden? Nein, ich nicht!
Kaum aus der Klinik heraus, suchte ich direkt das Gespräch mit meinem Stationsleiter. Ich wollte niemandem zur Last fallen und konnte ehrlich und offen mit ihm reden, dafür bin ich sehr dankbar! Auch dankbar dafür, dass er mir sofort klar machte, dass er mich in seinem Team nicht verlieren wollte, und mir versprach mich zu unterstützen. Wir beschlossen, dass ich erst mal meine Stunden reduzierte, auf 30 Stunden die Woche. Mein Team, bestehend aus Pflegepersonal und Ärzten, war für mich da. Sie haben mich aufgefangen in dieser schwierigen Situation und ich bin immer offen mit ihnen umgegangen.
Ich begann mit meiner Therapie und versuchte den Stress zu reduzieren. Nachts kämpfte ich mit den Nebenwirkungen. Wenn ich zu Hause schlafen konnte, war das für mich kein Problem. Im Nachtdienst dagegen wurde es immer schwieriger. Ich litt an Fieber, Schüttelfrost und Gliederschmerzen – nicht immer, aber häufig. Zuerst versuchte ich es durchzuziehen, auch wenn mir bewusst war, dass es auf Dauer nicht so weitergehen konnte, denn es war alles andere als angenehm. Nach einem Nachtdienst-Block, relativ kurz nach der Diagnose, bekam ich den nächsten Schub. Das verunsicherte mich total. Ich musste mir eingestehen, dass ich so nicht weiter machen konnte. Es ging einfach nicht! Dies vor mir und anderen zuzugeben, dass ich es nicht schaffte, das war sehr schwer, aber auf alle Fälle notwendig. Ich redete mit meinem Neurologen, dem Betriebsarzt und meinem Team. Schnell war klar: ich mache keine Nächte mehr. Das tat mir gut. Es nahm eine große Last von meinen Schultern, denn tagsüber funktionierte ich einfach besser. Dennoch war es oft schwer und ich merkte, wie ich körperlich mehr und mehr an meine Grenzen stieß. Einen Zustand, den ich weder kannte noch wollte. Mir wurde angeboten, in einen ruhigeren Bereich zu wechseln, das lehnte ich aber ab. Ich wollte bei meinen Kollegen, meinen Freunden bleiben. Ich denke, jeder muss für sich entscheiden, wie er mit der Situation umgeht. Ob er die Krankheit mit seinen Kollegen teilt oder eben nicht. Es gibt sicherlich auch Gründe dafür, es für sich zu behalten.
Dann wurde ich schwanger und bekam meinen Emil. Zwei Jahre später Theo. Seither genieße ich das „Mama sein“ und bin für meine kleine Familie da. Desto größer der Abstand zwischen Klinikalltag und meiner Zeit zu Hause wird, desto sicherer werde ich mir, nicht zurückzukehren. Auch, wenn es mir auf eine gewisse Art und Weise schwerfällt. Aber: Ich bin nun nicht mehr nur für mich verantwortlich, sondern auch für meine Kinder. Den Stress kann und möchte ich mir nicht mehr antun. Ich weiß, das würde mir nicht guttun. Klar, als Mama habe ich auch Stress, keine Frage. Aber eben anderen Stress. Quasi positiven Stress. Hört sich komisch an, aber so empfinde ich es. Und selbst, wenn es mal negativer Stress ist, so zaubern mir die Kinder mehr wie einmal am Tag ein Lächeln auf mein Gesicht und bringen mich mehrfach laut zum Lachen. Das ist die beste Medizin. :-)
Fakt ist: Ich habe immer gerne in der Klinik gearbeitet und vermisse es gelegentlich auch. Aber das bin ich einfach nicht mehr. Ich sehe mich nun eher im ambulanten Bereich oder als Praxisanleiterin für Auszubildende. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, evtl. Kurse zu belegen und Tagesmutter zu werden. Außerdem fragte ich mich auch schon häufiger, ob ich in einem Vorstellungsgespräch erwähnen würde, dass ich MS habe? Ich denke ja! Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch und hätte wohl ein schlechtes Gewissen die Krankheit zu verschweigen. Ich glaube immer noch, mit Ehrlichkeit und offenen Karten am weitesten zu kommen.
Tja – andererseits könnte ich mir auch noch ein weiteres Kind vorstellen. Dafür muss ich natürlich meinen Mann ins Boot holen. :-) Wie ihr sehen könnt, habe ich aktuell noch keinen festen Plan, wie es für mich beruflich weitergehen könnte. Ich glaube daran, dass sich Türen zu gegebener Zeit öffnen. Also mache ich mir da keinen Stress!
Einen Tipp möchte ich euch gerne mitgeben: Wenn ihr merkt, dass ihr an eure Grenzen stoßt oder euch bewusst wird, dass euch etwas einfach nicht guttut, egal, wie sehr ihr es euch auch wünschen würdet, ändert etwas! Manchmal ist es schon das Gespräch mit den Kollegen, das euch weiterhilft. So können gemeinsam Lösungen gefunden werden, die einiges angenehmer machen. Traut euch darüber zu reden, wenn es helfen könnte, und hört auf euren Körper!
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